Der dänische Familientherapeut und Bestseller-Autor Jesper Juul war einer der führenden Familienexperten. Nach langer schwerer Krankheit ist er im Alter von 71 Jahren gestorben. Im März 2012 hatte ich Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Auch wenn mittlerweile viele Jahr vergangen sind, möchte ich den Text auf Grundlage dieses Interviews nun nochmals veröffentlichen.


Erziehung scheint eine schwierige Sache geworden zu sein. Und sie wird durch die Regalmeter an Ratgeberliteratur nicht einfacher – im Gegenteil: Sollen Eltern eher Partner, ja Kumpel ihrer Kinder sein, oder sollen sie mit Disziplin und eisenharter Strenge ihren Nachwuchs fit für die globale Zukunft machen? Wo geht er lang, der richtige Weg durch den alltäglichen Erziehungsdschungel?

Jesper Juul hat viel Verständnis für solche Sorgen. »Jemand sollte den Eltern eine Medaille geben«, sagt der dänische Familientherapeut mit seinem singenden, melodiösen Dialekt. »Weil zum ersten Mal in der Weltgeschichte Eltern keine Unterstützung mehr im Sinne einer moralischen Instanz haben.« Und meint damit, dass sie sich nicht mehr auf alte Vorbilder und Erziehungsmuster stützen können, neue aber noch nicht etabliert sind. »Selbst meine Generation hatte eine solche Instanz: Wir wollten gegen unsere eigenen Eltern sein«, sagt der 64-Jährige.

Vielleicht ist es dieses tiefe Verständnis, das Eltern scharenweise seine Bücher kaufen, ihn in seinen Workshops um Rat fragen und seine Vorträge zu meist überbuchten Veranstaltungen werden lässt. Jesper Juul, Autor zahlreicher Ratgeber, Gründer des dänischen Kempler-Instituts und Kenner der Pädagogik, ist für viele Eltern die oberste Instanz in Sachen Erziehungsfragen.

Und wenn man ihm zuhört, scheint das Zusammenleben mit Kindern plötzlich gar nicht mehr so schwierig zu sein. Denn wo Konfrontation ist, sieht er den Kooperationswillen des Kindes, wo Strenge ist, sieht er die Unsicherheit und Ängste der Eltern, wo Aufmüpfigkeit ist, sieht er den Wunsch nach Kontakt und Führung. »Viele Eltern sind im Umgang mit ihren Kindern nicht menschlich, sondern sie spielen eine Rolle, die Elternrolle.« Dabei unterstellt er den Eltern keine böse Absicht. »Sie machen das aus gutem Grund, denn sie wollen natürlich das Beste für ihre Kinder.«

Aber zwischen guter Absicht und dem, was wirklich gut tut, können Welten liegen. Was also macht einen guten Vater und eine gute Mutter aus, Herr Juul? »Eltern sollten so weit wie möglich das machen, woran sie glauben, ihre Wertvorstellungen ernst nehmen. Und sie sollten ein ständiges Interesse an ihrem Kind haben und fragen: ›Wer bist du eigentlich?‹« Bei Juul brauchen solche Antworten Zeit. Er schließt sätzelang die Augen, während er ruhig in seinem Sessel sitzt, bedächtig seine Worte wählt und dabei mit Feuerzeug und Zigarettenschachtel hantiert.

Für ihn hat Erziehung nichts mit Gehorsam oder Zurechtbiegen des Kindes zu tun, sondern sehr viel mit Beziehung und vor allem mit Kontakt. Aber Herr Juul, Kinder brauchen doch Grenzen, oder? »Das wird in Deutschland oft behauptet, aber das ist nicht wahr«, antwortet der dänische Therapeut deutlich. Natürlich brauche jede Familie eine Handvoll Regeln, um zu funktionieren. »Aber diese Regeln sind angenehm für die Erwachsenen. Und das meine ich nicht abwertend.« Was Kinder vielmehr bräuchten, seien Eltern, die sich selbst definieren können im Sinne von »das mag ich, das mag ich nicht. Das will ich, das will ich nicht«. Die also nicht ihren Kindern Grenzen setzen, sondern vielmehr ihre eigenen Grenzen auf würdevolle Weise ziehen können.

Diesen Unterschied erklärt er an einem persönlich erlebten Beispiel. Beim Essen spuckte sein kleiner Enkel alles, was ihm nicht schmeckte, aus und schmierte es auf den Tisch – genau so, wie es Jahrzehnte früher schon sein Sohn machte. Damals hatte Juul geschimpft, was zu einem Wutanfall des Kleinen führte. Heute, mit seinem Enkel, bleibt er ruhig und sagt: »Ich will, dass du das Essen auf den Teller zurücklegst, und nicht auf den Tisch. Machst du das für mich?« Und ohne Widerworte legt der Kleine das Essen tatsächlich zurück.

Es geht bei Juul nicht um »Laissez-faire«, also die Kinder alles machen zu lassen. »Eine Familie muss sich entwickeln, und das geht über Führung«, sagt er, meint damit aber ein wertschätzendes Miteinander – im Zusammenleben mit kleinen Kindern, erst recht aber mit Pubertierenden. »Jugendliche brauchen von ihren Eltern genau vier Dinge«, sagt Juul, macht eine Pause, um dann zu erläutern: »Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen und Vertrauen.« Insbesondere, wenn eben nicht alles glatt läuft, wenn beispielsweise der schulische Druck groß wird und die Noten einbrechen. Was können Eltern dann tun? »Hoffentlich verhalten sie sich vernünftiger als die Schulen und setzten ihre Kinder nicht zusätzlich unter Druck«, meint Juul. Denn Druck erzeuge immer Gegendruck.

»Eine Familie muss sich entwickeln, und das geht über Führung«

»In solchen Situationen brauchen die Jugendlichen wirklich ihre Eltern.« Eltern also, die sich mit ihren Kindern solidarisieren, die sie unterstützen. Und die auch ihre eigene Unsicherheit zulassen und sagen können: »Hör zu, ich merke, dass du keinen Spaß an der Schule hast, ich weiß aber, dass Schule sehr wichtig ist. Was sollen wir tun?« Aus Erfahrung weiß Juul, dass Jugendliche in solchen Situationen häufig selbst Lösungen formulieren können. »Und dabei haben sie nicht die Idee, mit der Schule aufzuhören und stundenlang Fußball zu spielen. Die sind ja nicht doof, die wissen genauso, dass Schule wichtig ist.«

Überhaupt das Thema Schule. Wie bei vielen Experten kommen auch bei Juul Bildungseinrichtungen nicht gut weg. »Schulen nehmen Kinder nicht ernst«, behauptet er und erläutert: »Wenn ein Schüler schlechte Noten hat, kommt ja nicht der Rektor zu ihm und sagt: ›Ich höre, wie’s dir geht. Das ist ja furchtbar. Du bist unser wichtigster Kunde und bist nicht zufrieden. Was können wir tun?‹« Ein Gedanke, der zunächst absurd klingen mag, der aber von der modernen Hirnforschung längst unterstützt wird: Dass Kinder nur in wertschätzenden Umgebungen und mit viel Eigenmotivation gut lernen können. Angesichts des Schulsystems sagt er: »Was ich nicht verstehe ist: Warum sehe ich in Deutschland nicht eine Million Eltern auf der Straße die sagen: ›Jetzt reicht’s!‹ Es ist Zeit für Zivilcourage.«

Es sind letztlich auch politische Forderunge, die Jesper Juul stellt, doch eigentlich geht es ihm um das ganz praktische Zusammenleben von Familien. Und wie das gehen kann, steckt vielleicht als Essenz im Titel seines erfolgreichsten Büchleins. »Nähe, Grenzen, Respekt« heißt es recht langweilig auf deutsch – viel prägnanter jedoch im dänischen Original: »Hier bin ich. Wer bist du?«

Was auf den ersten Blick so leicht und locker rüberkommt, verlangt den Eltern aber eine ganze Menge ab. Müssen sie doch zunächst einmal fähig sein, ihre Aufmerksamkeit nach innen zu wenden, zu erkennen, wer sie sind sind und wo sie stehen mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten. Doch wer kann das? »Nur, wer sich seiner selbst gefühlsmäßig sicher ist, ist in der Lage, zu anderen einen tiefer gehenden Kontakt aufzubauen«, sagt Juul. Harter Tobak für Menschen, die es gewöhnt sind, sich eher in der Welt der Zahlen, Fakten und Daten auf rein rationale Gründe zu verlassen

Früher gab es Regeln, aber keine Empathie«

Aber sind in Zeiten der Wirtschaftskrise und Globalisierung solche weichen Fähigkeiten nicht fehl am Platz? Juul überlegt und sagt mit einem Lächeln auf dem Gesicht: »Man kann natürlich sagen, dass die Wirklichkeit heute bedeutet, vor Stress zu sterben.« Um sogleich die Antwort zu geben: »Aber das glaube ich nicht, das ist nicht wahr!«

Und dann singt er das Loblied auf eine neue Generation schwedischer Väter: »Die haben einen riesigen Sprung gemacht. Viele vertiefen sich in ihre Vaterrolle. Und wenn sie vier oder fünf Monate ausschließlich mit ihrem Baby verbringen, kommen sie danach mit sehr vielen neuen Fähigkeiten in ihren Job zurück«, schwärmt er. »Die bringen so viel Empathie mit, das kann man sich nicht vorstellen. Und damit verändern sie die Firmenkultur.«

Das seien Männer, die sehr kooperativ in Teams arbeiten und viel Kreativität mitbringen, weil sie in sich selbst ruhen, ihre Bedürfnisse kennen und den Blick auch nach innen richten. »Denn im Äußeren gibt es nur Aktivität, dort gibt es keine neuen Ideen.«

Hier ist er wieder, dieser Wechsel zwischen Innen und Außen. Der vielen Erwachsenen, aber zunehmend auch Kindern so schwer fällt. »Es gibt mehr und mehr Kinder, die außer sich sind, die sich nicht mehr entspannen können«, resümiert Juul Erfahrungen, die er in den letzten Jahren zunehmend machte. Denen der Wechsel zwischen »jetzt bin ich im Außen, und nun gehe ich ins Innere« unmöglich geworden ist – den sie verlernt haben.

Denn geboren werden so gut wie alle Menschen mit der Fähigkeit der Empathie und der inneren Ruhe. So enthält das neue Buch über Empathie, an dem neben Jesper Juul auch andere Therapeuten und Pädagogen sowie der Schriftsteller Peter Høeg mitgearbeitet haben, auch Übungen – zum Innehalten, zum Ruhigwerden, zur Entspannung. Alles Hilfen, den Kontakt zu sich selbst wieder herzustellen, in eine Balance zu kommen.

Und Eltern in dieser Balance falle Erziehungsarbeit leichter. »Früher gab es Regeln, aber keine Empathie«, sagt Juul etwa plakativ. Und heute? Sind viele Regeln weggefallen. So können sich Eltern nur noch auf sich selbst verlassen, auf ihre Intuition, die umso besser ist, je ausgeglichener sie in Kontakt mit ihren Kindern sind.

Im besten Fall haben beide etwas davon. Wie der kleine Enkel von Jesper Juul, der abends partout nicht einschlafen wollte, obwohl der Opa schon so lange neben ihm im Bett lag. Juul erzählt: »Da sagte ich ihm: ›Pass auf, ich bin so aufgedreht, du musst deinem Opa jetzt beim Einschlafen helfen. Leg doch deine Hand auf meinen Bauch.‹« Und so machten Opa und Enkel fünf, sechs tiefe Atemzüge, und schon schlief der Kleine ein. Juul lacht und sagt: »Und ich fast auch.«

Über Jesper Juul

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul ist einer der bekanntesten Erziehungsratgeber in Deutschland und Autor zahlreicher Ratgeberbücher, etwa »Nähe, Grenzen, Respekt« und »Das kompetente Kind«. Nach mehreren beruflichen Stationen studierte er Geschichte, Religionspädagogik und europäische Geistesgeschichte und arbeteite als Heimerzieher und Sozialarbeiter. In den 70er-Jahren machte er die Gestalttherapie in Skandinavien bekannt. Seit einiger Zeit leistet er in Flüchtlingslagern in Kroatien und Bosnien therapeutische Familienarbeit. Juul ist Gründer des »Kempler Institute of Scandinavia«, das er bis 2004 auch leitete. In den »FamilyLabs« bieten von ihm ausgebildete Trainer Workshops für Eltern und Kinder an.