Was ist Gestalttherapie?
Gestalttherapie ist ein ganzheitliches Psychotherapieverfahren aus dem Bereich der Humanistischen Psychologie. Entwickelt wurde sie in den 50er- und 60er-Jahren vor allem von Fritz und Lore Perls. In der Gestalttherapie stehen die Bedürfnisse, die Kontaktfähigkeit und das Erleben des Klienten im Mittelpunkt. Es geht immer um das Hier und Jetzt, wo sich vergangene, nicht bewältigte Lebenssituationen zeigen können. Entsprechend wichtig ist die Beziehung zwischen Therapeut und Klient: Denn nur dort – in diesem Moment zwischen diesen beiden Personen – findet die Therapie statt.
Gestalttherapie orientiert sich nicht am traditionellen Modell von „krank“ oder „gesund“, von „richtig“ und „falsch“. Wir Gestalttherapeuten lieben und achten die Vielfalt, die Freiheit und die Selbstverantwortlichkeit. Deshalb spreche ich auch nicht von Patienten, sondern lieber von Klienten. Das ermöglicht es mir, auf Augenhöhe zu arbeiten: Ich bin nicht derjenige, der weiß, wie das Leben geht. Vielmehr entwickle ich mit meinen Klienten zusammen einen für sie guten Weg durchs Leben.
Diesen Weg finden wir nicht nur durchs Reden. Sondern auch durchs Erleben, durch Ausprobieren und Experimentieren. Als Gestalttherapeut achte ich nicht nur auf das, was der Klient sagt, sondern auch, wie er er sagt. Welche Gefühle, Stimmungen und inneren Bilder also während des Erzählens entstehen oder als Nachhall erinnert werden. Nur dann, im Erleben, nicht im reinen kognitiven Erklären, ist wahre Veränderung möglich. Das wird auch durch neue psychotherapeutische Forschungen immer wieder belegt.
Entsprechend sind Schulung der Wahrnehmung und der Achtsamkeit, das Fördern der Selbstunterstützung, die Entwicklung von Selbstvertrauen und die Entdeckung der Lebendigkeit weitere zentrale Elemente des therapeutischen Prozesses.
Die Werkzeuge
Es gibt kein festes Ablaufschema einer gestalttherapeutischen Sitzung; jedes Treffen ist anders und neu, weil wir aus der Situation heraus spontan neue Übungen, Experimente und Settings kreieren können. „In der Gestalttherapie“, schreibt der Würzburger Gestalttherapeut Frank-M. Staemmler, „wird nicht nur geredet, sondern ausprobiert und experimentiert: mit Verhaltensweisen, körperlichen Bewegungen und Haltungen, mit Gedanken Gefühlen und Einstellungen, und zwar mit altbekannten als auch neuen.“
Konkret heißt das für mich, dass ich gerne auch im Stehen arbeite. Damit werden Sie und ich nicht nur körperlich beweglicher, sondern auch emotional freier. Sie werden auch häufig eine Frage wie „Was erleben Sie gerade, während Sie mir das erzählen“ von mir hören oder Rückmeldungen wie „Ich sehe, Sie machen gerade eine Faust. Spüren Sie mal, wie sich das anfühlt.“
Häufig experimentieren wir auch mit Sätzen oder arbeiten mit vorgestellten Kontakten und inneren Bildern, mit Kissen, Seilen, Moderationskarten und Flipchart. Die Werkzeuge und Techniken sind vielfältig und orientieren sich an meinen und an Ihren Vorlieben. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Haltung, mit der sie angewandt werden.
Weitere zentrale Elemente des therapeutischen Prozesses sind Schulung der Wahrnehmung, das Fördern der Selbstunterstützung, die Entwicklung von Selbstvertrauen und die Entdeckung der Lebendigkeit. Dadurch entstehen für Sie neue Wahlmöglichkeiten: Sie werden in Ihren Handlungen flexibler und geschmeidiger.
Inhalt und Prozess
Um Veränderung zu ermöglichen, ist es wichtig, nicht nur kognitiv über Probleme und Themen zu reden, sondern alle Bereiche menschlicher Erfahrung einzubeziehen: Neben den Gedanken und Ideen auch die Emotionen und den Körper. Alles zusammen bildet die ganzheitliche Gestalt, die Sie als Mensch ausmacht.
Mehr noch: Eine besondere Rolle für Veränderung spielt der emotionale Bereich. Was Perls vor vielen Jahrzehnten behauptet hat, betätigt nun die moderne Therapieforschung: „In Therapiegesprächen muss der Therapeut sein Aufmerksamkeit jedoch vor allem bei dem haben, was prozessual abläuft, denn dort, auf der prozessualen Ebene, spielt sich das veränderungsrelevante Geschehen ab“, schreibt der renommierte Schweizer Psychotherapieforscher Klaus Grawe.
Die Grundhaltungen: Wie die Gestalttherapie die Welt sieht
Die Art und Weise der Arbeit ist nichts ohne den Geist, der in ihr zu finden ist. Dem Grund, wieso ich die Dinge so tue, wie ich sie tue. Der Gestalttherapie liegt ein grundlegendes Verständnis des Menschen und zwischenmenschlicher Begegnung zugrunde, die man als Haltung zur Welt beschreiben kann. Diese vier Haltungen sind für mich persönlich und für meine Arbeit sehr wichtig:
Dialogische Grundhaltung
Ich nehme mein Gegenüber mit seiner Einzigartigkeit und Ganzheit wahr, ich trete ihm wertschätzend und persönlich gegenüber. Ich funktionalisiere ihn nicht, ich analysiere oder bewerte ihn auch nicht. Der Religionsphilosoph Martin Buber sprach dabei von der „Ich-Du-Beziehung“. Ich begegne dem Anderen als einem individuellen, frei für sich selbst entscheidenen und unabhängigen Gegenüber.
Ich bin kein Besserwisser und verschanze mich auch nicht hinter irgendwelchen Psychotechniken, sondern stehe meinem Klienten als partnerschaftlicher Begleiter persönlich erkennbar, emotional resonanzfähig, engagiert und unabhängig gegenüber.
Das bedeutet auch, dass Übungen und Techniken gemeinsam im Dialog entwickelt und transparent gemacht werden.
Phänomenologische Grundhaltung
Ich höre von meinem Gegenüber natürlich, was er zu sagen hat. Doch im Zentrum meiner Aufmerksamkeit ist immer auch das Wie: der Erlebens-Prozess, der sich ganz vielfältig zeigt: durch Körperhaltungen, Gestik, Mimik, Tonlage und allen anderen meinen Sinnen und meiner Resonanzfähigkeit zugänglichen Wahrnehmungen. Ich halte mich also nicht so sehr auf der kognitiven Ebene des Denkens und Fantasierens auf, sondern eher auf der Ebene des Erlebens und Wahrnehmens.
Deshalb verzichte ich weitgehend auf Interpretationen und Analysen, sondern bleibe in einem Zustand des Unvoreingenommenseins im unmittelbaren Hier und Jetzt.
Feldtheoretische Grundhaltung
Nichts geschieht nur für sich allein. Wir sind permanent im Austausch mit unserer Umwelt, ja mehr noch: Wir sind ohne Umwelt nicht denkbar. So geschieht auch die Arbeit in der Therapie zwischen dem Klienten und mir zum gegebenen Zeitpunkt. Mit einem anderen Therapeuten würde der Klient Anderes erfahren, an einem anderen Tag erfährt er auch mit mir Anderes. Deshalb gehen auch monokausale, einfache Erklärungsmuster an der Realität vorbei.
Existenzielle Grundhaltung
Ich bin mir sicher: „Der Mensch ist zur Freiheit verdammt“ (Sartre), er ist aktiver Gestalter seines Leben. Wir haben immer eine Wahlmöglichkeit. Auch wenn wir, wie beim Militär, einen Befehl erhalten, steht es uns frei, ihn zu verweigern. Das soll nicht heißen, dass wir alles können, wenn wir es nur wirklich wollen. Keineswegs! Natürlich sind unserem Leben und unseren Möglichkeiten Grenzen gesetzt, etwa durch Herkunft, Aussehen, Erfahrungen, usw. Doch innerhalb dieser Grenzen ist es an uns, zu entscheiden.
Wichtig ist mir, die persönliche Verantwortung zu übernehmen. Viele Menschen meinen, die Verhaltensweisen der anderen seien Ursache für ihre eigenen Reaktionen. Sie tun so, als ob sie keine Wahlmöglichkeit hätten, als ob sie wie eine dressierte Maus von anderen fremdgesteuert seien. In der gemeinsamen Arbeit geht es mir und die Befreiung aus dieser Illusion der Verantwortungslosigkeit, indem ich meinen Klienten immer wieder mit seiner Opferhaltung konfrontiere und Gestaltungsmöglichkeiten erarbeite.
Eine kurze Geschichte der Gestalttherapie
Fritz Perls wird 1893 in Berlin als Friedrich Salomon Perls, drittes Kind jüdischer Eltern, geboren. Ihn zeichnet eine große Neugierde und eine Rastlosigkeit aus; ein Drang, ständig über den Tellerrand zu schauen und aus ganz unterschiedlichen Bereichen Impulse aufzunehmen: Als Heranwachsender ist er fasziniert von Max Reinhardt, dem damaligen Leiter des Berliner Theaters und von den vielfältigen Aspekten der nonverbalen Körpersprache und Ausdrucksfähigkeit. Als Arzt und Neurologe (nach deinem Medizinstudium eröffnet er 1921 eine Praxis in Berlin, später geht er nach Frankfurt) knüpft er viele Kontakte zu Künstlern des Bauhauses und Philosophen wie Salomon Friedlaender und Kurt Goldstein. Goldstein ist ein Vertreter der damals jungen Gestaltpsychologie.
Er lernt die Phänomenologen und die Existenzphilosophie kennen und schließlich Wilhelm Reich. Reich, ein direkter Schüler von Sigmund Freud, war der erste Psychotherapeut, der die Bedeutung des Körpers fürs Verstehen der Psyche verstand. Reich entdeckte den sogenannten „Muskelpanzer“, chronische Verspannungen die in typischen Mustern organisiert sind und mit dem „Charakterpanzer“ korrespondieren. Entsprechend setze Reich in seinen psychotherapeutischen Sitzungen auch Massagetechniken ein, um über körperliche auch seelische Verspannungen zu lösen.
Vor den Nazis müssen er und seine Frau Lore (die ebenfalls Psychoanalytikerin ist) fliehen: zuerst nach Holland, dann nach Südafrika. Dort, weit weg von der psychotherapeutischen „Community“ entwickeln beide eine neue Form der Arbeit. Sie schaffen die Couch ab, setzen sich ihren Klienten direkt gegenüber und gehen mit ihnen in direkten Kontakt. Zunehmend integriert Perls die vielfältigen therapeutischen und philosophischen Einflüsse: Mehr und mehr verzichtet er auf das Werten, sondern rückt das Würdigen von Verhaltensweisen ins Zentrum; er arbeitet verstärkt prozesshaft und dringt so sehr schnell zum Kern des jeweiligen Problems vor.
Nach Ende des Kriegs, 1946, ziehen die Perls in die USA. In New York etablieren sie Therapiegruppen, mit Paul Goodman und Ralph Hefferline schreibt Fritz Perls das Buch „Gestalt Therapy – Excitement and Growth in the Human Personality“. Damit ist der Begriff Gestalttherapie geprägt. Fritz baut in Folge die phänomenologische Herangehensweise weiter aus: Konsequent unterlässt er alles Deutende, sondern bleibt in direktem Kontakt und an der Oberfläche, an dem, was er an seinem Klienten wahrnimmt.
1956 kommt es zum Bruch mit seiner Frau, die auch als Gestalttherapeutin arbeitet. Über Umwege zieht er nach Kalifornien und baut dort seinen ganz persönlichen Stil weiter aus. In der Folge wird unterschieden zwischen dem eher akademisch angehauchten Ostküsten- und dem eher katarsischen, expressiven Westküstenstil. 1970 stirbt Fritz Perls, seit 1990 ist seine Urne neben der seiner Frau Lore in Pforzheim beigesetzt.
Viele Menschen verbanden – und verbinden immer noch – Gestalttherapie damit, auf ein Kissen einzudreschen und sich die Seele aus dem Leib zu schreiben. Das kann schon auch noch passieren in Sitzungen. Doch ist die Arbeit mittlerweile sehr viel vorsichtiger, genauer und klarer geworden. Es geht nicht darum, Gefühle wie Wut oder Angst „loszuwerden“, sondern sie mit Unterstützung des Therapeuten zu spüren und zu erleben. Dann kommen sie in einen Erlebensprozess, „in denen gerade die Inhalte, unter denen die Klientinnen leiden, sich auflösen und dadurch der Weg frei wird für Lösungen, die aus dem aktuellen Erleben der Klientinnen heraus neu entstehen“ (Werner Bock).
Körpertherapie und Achtamkeit
Beginnend mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse verzweigt sich der Baum der Psychotherapie seit Jahrzehnten immer weiter. Neben den klassischen tiefenpsychologischen Schulen etablierte sich in den 60er-Jahren der humanistische Zweig eben mit der Gestalttherapie und den vielfältigen Körperpsychotherapien (auch mit u.a. Transaktionsanalyse, Psychodrama oder Gesprächstherapie).
Viele neue, sich spezialisierende Strömungen finden sich in der Gestalttherapie. So ruht die Gestalttherapie etwa auf den breiten Schultern von Wilhelm Reich, auf den sich auch viele Körper- und Traumatherapeuten wie etwa Alexander Lowen, David Berceli (TRE) oder Peter Levine mit Somatic Experience beziehen. Die Wchtigkeit des Körpers, die Arbeit mit ihm, sind für Gestalttherapeuten selbstverständlich.
Ebenso wie der Trend zur Achtsamkeit. Mit dem Begriff Bewusstheit arbeitete schon Perls, der auch durch buddhistische Traditionen inspiriert wurden. Für und Gestalttherapeuten ist Achtsamkeit ein hohes Gut. Nur durch ein wertungsfreies Gewahrsein im Hier und Jetzt ist es möglich, sich seiner Bedürfnisse, seiner Emotionen und Stimmungen bewusst zu werden.
Ist das Kunsttherapie?
Nein, ist es nicht! Fritz Perls hat mit dem Namen vielmehr darauf abgezielt, dass unsere Psyche versucht, offene Gestalten zu schließen, unerledigte Geschäfte abzuschließen. Inspiriert von der damals aufkommenden Gestalt-Psychologie nannte er seine von ihm maßgeblich mitentwickelte Therapieform dann eben Gestalttherapie.