Glauben Sie, dass Sie „Herr in ihrem eigene Haus“ sind? Dass Sie – und damit meine ich das bewusste Selbst, das diese Zeilen liest – frei entscheidet? Ich muss Sie enttäuschen: Womöglich sind Sie nur Untermieter, höchstens Miteigentümer

Seit Anfang der 1980er Jahre belegen Physiologen mit immer mehr Studien, dass Teile des Hirns willentliche Entscheidungen bereits zwei oder drei Zehntelsekunden zuvor vorweg nehmen. Als ob etwas in uns eine Entscheidung bereits getroffen hat, und unser Verstand diese Entscheidung lediglich nachträglich ausführt und begründet.

Wie überall gibt es an diesen Studien zwar auch Zweifel, fest steht allerdings, dass wir Menschen nie nur mit dem bewussten Verstand entscheiden, sondern auch mit einer vorbewussten, emotionalen Instanz urteilen. Man könnte sie Gespür, Intuition oder Bauchentscheidung nennen.

Zwei Systeme also, die parallel aktiv sind!

Lassen Sie uns mal einen – ich gebe zu: äußerst einfachen und gewollt simplen – Blick in unser Hirn werfen (wer’s Genauer haben möchte, für den stehen am Ende noch einige Literaturhinweise). Einen Blick, der uns auch die evolutionäre Entwicklung unseres Hirns zeigt. Denn Evolution hat, könnte man sagen, etwas Schwäbisches: Evolutionäre Prozesse sind sparsam. Häufig wird nicht komplett neu entwickelt, sondern auf Altem aufgebaut, umgenutzt, angebaut. So auch beim menschlichen Hirn: Das Stammhirn ist entwicklungsgeschichtlich der älteste Teil, den wir mit beispielsweise Reptilien teilen. Er steuert ganz grundlegende Verhaltensweisen: fressen, saufen, Sex sowie Flucht und Verteidigung bzw. Angriff.

Darüber wölbt sich das stammesgeschichtlich neuere Zwischenhirn oder auch limbische System genannt. Ein Konglomerat aus unterschiedlichen Bereichen, die vor allem Emotionen erzeugen und mit der Amygdala ein besonderes Gedächtnis beherbergen, zu dem ich später noch mal kommen werde. Umfasst wird dieses Zwischenhirn vom Großhirn, in dessen präfrontalem Kortex hinter der Stirn das Bewusstsein sitzt mit seinem rationalen Denken, dem Planen, und Reflektieren. Dort also ist der Sitz der Hirnfunktionen, die vor allem uns Menschen eigen sind.

Nun ist es so, dass alle Teile des Hirns permanent bzw. bei Bedarf in Funktion sind. Wie gesagt: Die Evolution ist sparsam, sie lässt nichts brachliegen, alles wird verwendet und genutzt. Das heißt: Nicht nur unsere Denkerstirn ist in Aktion, sondern auch unser „Reptiliengehirn“.

Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann hat diese parallele Verarbeitung im Gehirn als schnelles und langsames Denken beschrieben. Seinen Forschungen nach sind zwei Systeme aktiv, die er (ganz pragmatisch) System 1 und System 2 nennt.

Das schnelle emotionale System 1

System 1 ist entwicklungsgeschichtlich älter. Es ist im Hintergrund permanent aktiv und arbeitet weitgehend mühelos. Es ist extrem schnell in seinen Bewertungen, dafür aber auch sehr grob und stereotypisierend. Es entzieht sich der willentlichen Steuerung weil es unbewusst arbeitet. Es ist nicht nur stammesgeschichtlich, sondern auch in der embryonalen Entwicklung das ältere System. Es beginnt bereits im Mutterleib mit seiner Arbeit – dem Aufbau eines Gedächtnisses, das sämtliche Erfahrungen nach einem einfachen Prinzip bewertet: „gut für mich“ oder „schlecht für mich“. Daraus folgt: „mag ich“ / „mag ich nicht“. Weil es unbewusst und vorsprachlich arbeitet, teilt es sich in Gefühlen mit: Lust und Unlust, Aggression oder Ekel.

Das langsame bewusste System 2

System 2 ist entwicklungsgeschichtlich jünger. Es ist vergleichsweise langsam und es ist seltener aktiv weil es als anstrengend empfunden wird. Dafür kann es sehr komplexe Zusammenhänge durchdringen, planen, Strategien entwerfen, Mathe-Aufgaben lösen. Es lässt sich willentlich steuern. Kahnemann schreibt: „Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.“

Am Beispiel: Fahren wir (als erfahrener Autofahrer) mit dem Auto und denken dabei über das Meeting am heutigen Abend nach, erledigt System 1 die Routinearbeit – lenken, kuppeln, Gas geben oder bremsen – während System 2 eine Strategie fürs Meeting entwirft. Passiert etwas Unvorhergesehenes, beispielsweise ein schneller Schatten am linken äußeren Rand unseres Blickfelds, warnt uns System 1: Wir zucken zusammen, eventuell bremsen wir, spüren das Adrenalin im Körper, das Herz schlägt schneller, Dutzende körperliche Reaktion laufen ab, um uns in Reaktions-Bereitschaft zu bringen. Gleichzeitig fokussiert System 2 die Aufmerksamkeit auf unsere linke Seite (und denkt nicht mehr ans Meeting) – und stellt glücklicherweise nach einigen Zehntelsekunden fest, dass nichts Gefährliches passiert ist. Es kann sich wieder der Strategie fürs Meeting zuwenden.

Beide Systeme funktionieren also im Alltag Hand in Hand. Auch in Entscheidungsfällen gibt es kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Beide Systeme entscheiden: System 1 durchforstet das emotionale Erfahrungsgedächtnis und urteilt sehr schnell nach dem Prinzip „mag ich“ oder „mag ich nicht“. Da ist System 2 noch mit einer umfassenden, genauen Analyse beschäftigt. Prima ist, wenn seine Entscheidung in die gleiche Richtung wie System 1 weist. Schwieriger, wenn beide Systeme unterschiedlich bewerten. In einem Coaching lassen sich solche Probleme neu bewerten.

Literaturtipps

Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken. Pantheon 2011
Maja Storch, Frank Krause: Selbstmanagement – ressourcenorientiert. Hogrefe 2017