Immer wieder kommen Paare zu mir, die sich über Jahre hinweg an immer gleichen Streitpunkten aufreiben. Die Frau wirft ihrem Mann vor, sie nicht mehr zu lieben, weil er so viel Zeit in der Garage beim Motorradschrauben verbringt. Er wiederum wirft ihr vor, ihn und sein Ruhebedürfnis zu missachten, weil sie im Urlaub nie zweimal an den selben Ort fahren möchte.
Bei näherem Hinsehen verbergen sich hinter solchen Auseinandersetzungen Charaktereigenschaften der Partner, die sich nur schwerlich ändern werden. Und zwar Charaktereigenschaften, die in Polaritäten angeordnet sind. Es gibt Menschen, die brauchen mehr Abwechslung, andere, die wollen es eher beim Alten lassen. Es gibt Menschen, die benötigen viel Nähe, andere brauchen Freiraum. Der Schweizer Psychologe Christoph Thomann hat diese Polaritäten in das von ihm bezeichnete Riemann-Thomann-Modell gegossen.
Demnach lassen sich Menschen irgendwo in diesem zweidimensionalen Raum verorten. Kaum jemand wird an einem Ende der x- oder y-Achse sein, kaum jemand wird für alle Lebensbereiche seinen festen Platz in diesem Koordinatensystem finden. Vielmehr werden die Positionen fließen, dennoch in der Tendenz sich in einer Hälfte oder einem Quadranten bewegen.
Wie machen sich solche Polaritäten bei Menschen tatsächlich bemerkbar? Hier sind einige Eigenschaften, die auf eine Ausprägung dieses Pols schließen lassen. Sie sollen die Charaktereigenschaften lediglich deutlich machen.
Nähe:
Sie möchten ihrem Partner nicht nur körperlich nah sein. Sie sind empathisch, denken und fühlen für den anderen mit, möchten ihn glücklich machen. Tendenziell sind sie eher bescheiden und verzichtsbereit, ihr Streben ist es, den geliebten Menschen glücklich zu machen. So besteht die Gefahr, dass er sich ausnutzen lässt, in der übersteigerten Form klammert er.
Distanz:
Sie sind unabhängig und autark und können sich in Gruppen gut unterordnen. Häufig sind sie gute Theoretiker, lassen sich aber ungern auf andere ein. So wirken sie häufig kühl, distanziert, und sie setzen ihre Grenzen mitunter schroff durch.
Dauer:
Verlässlich, sparsam, pünktlich und bodenständig: So könnte man Dauer-Menschen beschreiben. Sie brauchen viel Sicherheit, planen deshalb ihr Leben gut und strukturiert durch und sind Neuem gegenüber reserviert. Sie hassen das Chaos.
Wechsel:
Sie sind begeisterungsfähig, spontan, kontaktfähig, langweilen sich schnell und sind Neuem gegenüber aufgeschlossen. „Schema F“ bringt sie zur Verzweiflung. Sie bewegen sich eher im Chaos, sind tendenziell unpünktlich und scheuen Verpflichtungen.
Wie gesagt: Jeder wird sich im Laufe seines Lebens und in verschiedenen Lebenssituationen im Koordinatensystem bewegen.
Wichtig für Paare ist zu wissen, dass es weder richtig noch falsch ist, wenn der Partner sich in einem, ich mich in einem anderen Quadranten zu Hause fühle. Das bedeutet auch: Fühlt einer der Partner sich eher in der Distanz wohl, heißt es nicht, dass er den anderen nicht liebt, nur weil er nicht so viel Zeit mit ihm verbringen mag.
Dürfen beide ihre Eigenheiten ausleben, werden sie in diesem Koordinatensystem fließen. Denn jeder trägt immer beide Polaritäten in sich – nur eben in unterschiedlicher Ausprägung. Schwierig fürs Paar wird es, wenn dieser Fluss ins Stocken gerät, indem die Partner auf bestimmte Koordinaten-Bereiche festgeschrieben werden, nach dem Motto : „Nie tust du …“ oder „Immer bist du …“ Dann wird aus der Polarität (also der belebenden ergänzenden Unterschiedlichkeit) eine Polarisation (ein starrer, dysfunktionaler Gegensatz), die unweigerlich Streit auslöst und die Entwicklung des Paares hemmt.
Ein Test
Machen Sie als Paar doch für sich selbst den Test: Wo würden Sie sich selbst verorten, wo eher Ihren Partner? Zeigen sich große Unterschiedlichkeiten? Und ich welchen Lebensbereichen sind die Ausprägungen deutlicher, in welchen weniger deutlich? Wann kommt es in Ihrer Beziehung zu Konflikten, wann können Sie Gegensätze gut integrieren? Wieviel Nähe und wieviel Abwechslung brauchen Sie?