Die Zeit drängt und das Kind spielt. „Kira, beeil dich, wir haben jetzt keine Zeit zu trödeln“, ermahnt Heike ihre zehnjährige Tochter. Empört baut sich da die kleine Kira vor ihrer Mutter auf und konstatiert: „Mama, zum Trödeln hab’ ich immer Zeit!“

Diese Begebenheit mit einer guten Freundin, schon Jahre her, kommt mir während der gemächlichen Corona-Zeit wieder in den Sinn. Ist doch gerade jetzt die beste Gelegenheit, sich übers Trödeln Gedanken zu machen. Ich trödle beispielsweise gern, aber dazu später mehr.

Effizienz ist Trumpf

Auch wenn unsere Hochleistungsgesellschaft gerade Pause macht und die Straßen morgens um 8 Uhr noch leer sind: Trödeln hat eigentlich einen schlechten Ruf. Wer trödelt, arbeitet nicht schnell und vor allem effektiv genug, verschwendet Zeit und damit Arbeitskraft und Geld. „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, weiß auch der Volksmund. (Interessant ist übrigens, dass in der griechischen Antike Muße ein hohes Gut war: Sie war Zeichen für das gute Leben eines freien Manns. Arbeiten mussten nur die Sklaven.) Wer trödelt, wird heutzutage schnell als faul abgestempelt. Effizienz und Geschwindigkeit sind in unserer Gesellschaft dagegen Trumpf.

Das betrifft übrigens jede moderne und prosperierende Industriegesellschaft, hat der US-amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine bereits Ende der 1990er Jahre festgestellt. Er war ein Jahr lang durch die Welt gereist und studierte dabei das Tempo und den Umgang mit der Zeit in unterschiedlichen Gesellschaften. Wie pünktlich sind Menschen, wie genau nehmen sie die Zeit überhaupt wahr, aber auch: Wie schnell bewegen sie sich durch die Straßen? „Das Leben in der Industriegesellschaft ist so eng mit der Uhr verwoben, dass ihre Mitglieder oft vergessen, wie exzentrisch ihr Verhältnis zur Zeit auf andere wirken kann“, schreibt Levine in seinem lesenswerten Buch „Eine Landkarte der Zeit“ über unseren Umgang mit Zeit. Weitere Ergebnisse: Je wohlhabender eine Gesellschaft ist oder je industrieller sie ist, desto schneller ist sie auch; desto wichtiger ist Pünktlichkeit, desto schneller bewegen sich die Menschen.

Der Eingangskorb bleibt voll

Eigentlich kein Wunder, beruht unser wirtschaftlicher Erfolg doch auf der Grundlage des „Immer mehr“: Wirtschaft muss wachsen, Produktion effektiver gestaltet werden. Das grundlegende Zeichen moderner Industrie-Gesellschaften, sagt der Soziologe Hartmut Rosa, ist, dass sie sich nur „dynamisch stabilisieren“. Sein Schluss: Wenn unsere Wirtschaft nicht mehr wächst, bricht unsere Gesellschaftsordnung zusammen. Konkret für uns alle bedeutet diese Beschleunigung, dass wir immer mehr in immer weniger Zeit erledigen müssen. Ja, mehr noch: Viele bekommen ihre To-do-Listen überhaupt nicht mehr abgearbeitet und die Idee von der inbox-zero, also dem leeren Eingangskorb am Schreibtisch, bleibt für immer Illusion.

Wenn die deutsche Gesellschaft, also das Umfeld, in dem wir leben, in einem gleichen, schnellen Takt schlägt, heißt das im Umkehrschluss doch, dass viele sich an diesen Takt anpassen, dass sie also nicht synchron mit ihrer eigenen Taktfrequenz leben. (Vergleichbar etwa dem Größendurchschnitt einer Bevölkerung: Der durchschnittliche Deutsche ist knapp 1,74 Meter groß, aber die allermeisten sind eben größer oder kleiner.)

Trödeln ist Leben in Eigenfrequenz

Trödeln wäre also die Rückkehr zu unserem ganz eigenen Rhythmus. Im Trödeln entziehen wir uns der Steigerungslogik. Und vor allem entziehen wir uns den Ansprüchen von außen, dass wußte die kleine Kira ganz intuitiv. Wer trödelt, geht seinem ganz eigenen Tempo zu genau diesem Moment nach, er lebt ganz nach seinen Bedürfnissen und nicht nach äußeren Maßstäben oder Zwängen. Er ist in Resonanz mit sich (nochmal ein Begriff von Hartmut Rosa), oder, anders formuliert, er ist in Kontakt mit sich und nimmt sich allein als Handlungsmaßstab. Genau das lehren uns auch Achtsamkeitspraktiken – ganz im Hier und Jetzt aufzugehen.

Für mich ist dieses Trödeln ein schönes Ritual fürs Ende meines Arbeitstages geworden: Wenn der letzte Klient meine Praxis verlassen hat, ich die Räume gut durchlüfte und in genau meinem Tempo meine Sachen packe; ich mir die Freiheit lasse, auch noch ganz andere Dinge anzufangen, nicht effektiv zu sein und – auf schwäbisch – zu „kruschteln“, also tätig zu sein und mich gleichzeitig treiben zu lassen. Und wehe, irgendjemand steht dann neben mir und wartet, dass ich endlich fertig werde. Nein, diese Zeit ist meine ganz eigene Zeit und ich bin erst dann fertig, wenn ich das Gefühl habe, fertig zu sein! In diesen Minuten lebe ich ganz mein ureigenes Tempo, bin ich ganz selbstbestimmt.

Doch zu einem selbstbestimmten Leben gehört auch die freie Wahl: Jetzt möchte ich mich beeilen, weil ich beispielsweise andere nicht warten lassen möchte. Aber dann nehme ich mir Zeit für mich. Diese freie Wahl zu haben, ohne schlechtes Gewissen, ist für mich ein Merkmal eines guten Lebens.