Ein solches Gefühls-Auf-und-Ab habe ich schon lange nicht mehr erlebt. In den letzten Tagen schwankte meine Stimmung zwischen Gelassenheit und Angst hin und her – und das innerhalb von Minuten. Die Coronakrise räumt gründlich auf mit alten Gewissheiten. Sie stellt mich (und die gesamte Gesellschaft) vor neue und permanente Entscheidungen, für die mir – wegen viel zu wenig Informationen – die Grundlage fehlt. Vielleicht wird alles gut werden, wie es Matthias Horx beschreibt. Vielleicht auch nicht. Da ist es wahrlich keine Hilfe, dass auch Experten und Politiker im Trüben fischen und laufend neue Erkenntnisse verbreiten. Zu viele Fragen bleiben offen …

Was mir hilft, ist immer wieder ein ganz grundlegender Reset – eine (Rück-)Besinnung auf die innere Haltung, wie ich sie aus den philosophischen Grundlagen der Gestalttherapie gelernt habe. Mit folgenden Eckpunkten:

Umgang mit Unsicherheit

Es ist interessant zu beobachten, wie Menschen mit der Unsicherheit der Coronakrise umgehen. „Wenn Menschen eine noch nie dagewesene, tödlichen Bedrohung erleben, dann tendiert die kollektive Psyche zu Extremen“, schreibt der italienische Medientheoretiker Antonio Scurati in der FAS. Da gibt es also jene, die Angst haben, die Lebensmittel und Klopapier horten und nur noch mit Handschuhen und Atemmaske das Haus verlassen. Und dann jene, die den Umgang mit Corona für überzogen und hysterisch halten und sich – jetzt erst recht! – mit Freunden im Straßencafé treffen. Beide Verhaltensweisen sind überzogen, beide aus dem Willen geboren, ein vermeintliches Patentrezept zu finden und damit Sicherheit zu erlangen. Und beide Bewältigungsmechanismen gehen an der Realität vorbei. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der Krise verläuft irgendwo zwischen diesen beiden Polen.

Ich lerne aus der Coronakrise, mich auf diese Unsicherheit einzulassen und quasi mit ihr zu gehen. Einer meiner Ausbilder, Frank-M. Staemmler, beschrieb diesen Weg als „kultivierte Unsicherheit“. Wenn ich die Unsicherheit zulasse, wenn ich nicht nach einem Patentrezept suche, eröffnen sich mir gleichzeitig neue Handlungsspielräume. Weil mir die vermeintliche Sicherheit eines Patentrezepts verloren geht, erlebe ich mich unmittelbarer, purer. Ich fühle intensiver, beispielsweise Angst oder Trauer. Das ist nicht angenehm, gewiss (deshalb flüchten sich ja viele in den scheinbar sicheren Hafen des Patentrezepts). Doch ich erlebe auch, dass diese Gefühle – lasse ich sie erst mal zu – auch wieder gehen und anderem, nämlich Hoffnung und Tatendrang Raum geben.

Ein Leben von Moment zu Moment

Wenn ich die Unsicherheit zulasse, kann ich es mir auch erlauben, einmal getroffene Entscheidungen zurückzunehmen. In der vergangenen Woche noch wollte ich mit Kollegen abends essen gehen. Am Abend zuvor bekam ich Sorge und ich konnte es mir gar nicht mehr vorstellen, einen Abend in einem kleinen Lokal zu verbringen. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich so kurzfristig das Treffen absagte. Und doch war es richtig. Ich erlaubte mir, mich zu revidieren, ich erlaubte mir, von Moment zu Moment zu leben und immer wieder neu zu bewerten und zu entscheiden.

Für mich ist das wie ein Fahren auf Sicht, wie in dichtem Nebel. Dabei will ich auch nur die nächsten paar Meter unfallfrei zurücklegen, und dann die nächsten paar Meter. Ein Leben auf Sicht bedeutet in diesem Sinn ein Leben im Hier und Jetzt. Was ich jetzt für Wahr und richtig halte, kann in ein paar Stunden schon wieder ganz neu für mich aussehen.

Bedürfnisorientiert leben

Wenn ich weniger vernünftige, also von der Ratio gesteuerte Entscheidungsgrundlagen mehr habe, bedeutet das, dass ich mich mehr an meine Resonanz halten muss: Was empfindet mein emotionales System, wie würde das entscheiden? Gefühle bekommen einen neuen Stellenwert, (immer in Verbindung mit der Ratio): Fühle ich mich wohl in einer bestimmten Situation? Mag ich mir eine Verhaltensweise erlauben? Habe ich ein irritierendes Bauchgefühl zu einer Sache? Diese Gefühle sind entstehen ja nicht im luftleeren Raum, sie sind kein „Gedöns“, sondern gründen sich auf Erfahrungen, gespeichert in der Amygdala und im Körpergedächtnis. Sie sind als Entscheidungs-Richtschnur auch wichtig – und in unübersichtlichen Zeiten lerne ich, mehr auf sie zu hören.

Im Körper zuhause sein

Sobald ich zu häufig Nachrichtenseiten im Web aufrufe, spüre ich auch eine Veränderung im Körper: Meine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen, meine Schulterpartie versteift sich, mein Muskeltonus erhöht sich, ich atme flacher. Das alles sind bei mir Anzeichen von Stress und Angst. Der emotionalen Anspannung begegne ich deshalb auch ganz körperlich: Ich suche Kontakt zu meiner Frau, ich beginne den Tag mit Körperübungen aus der Bioenergetik und dem Chi Gong, in denen ich mir selbst gewahr werde. Diese Übungen erden mich, sie verschaffen mir Kontakt zu mir und meinen Emotionen, sie lockern meinen Körper. Und ich gehe in diesem schönen Frühling so oft wie möglich draußen spazieren oder joggen.

Disziplin üben

Die Gestalttherapie hat mich auch Disziplin gelehrt. Nicht übermäßig, aber doch ein wenig. Derzeit diszipliniere ich mich im Konsum von Informationen und hole mir nur zwei Mal am Tag neue Nachrichten: Morgens auf Spiegel Online, abends eine klassische Nachrichtensendung im Fernsehen. Und zum Einschlafen den unaufgeregten Podcast mit dem, führenden deutschen Virus-Forscher Christian Drosten.

Bleiben Sie gesund!