Das wäre so schön: Wir Menschen entscheiden ganz rational, führen Pro- und Contra-Listen, diskutieren sachlich und entscheiden uns dann fürs objektiv Beste. Wir müssten nicht mehr streiten, ein Austausch der Argumente würde genügen. Und wir wären glücklich, weil wir alle Unwägbarkeiten diskursiv aus dem Weg räumen könnten. Ein Traum – womöglich ein Alptraum.

Die Realität sieht anders aus: Wir sind unseren tierischen Vorfahren näher als manchem lieb ist. Zwar haben wir mit unserem Verstand ein rationales Entscheidungs-System, doch dieses läuft parallel zum alten und sehr mächtigen emotionalen Entscheidung-System (und hinkt ihm – was Geschwindigkeit angeht – auch noch klar hinterher!). Diese beiden Systeme habe ich bereits beschrieben.

Hier soll es vornehmlich ums Emotionale System gehen. Wir alle kennen Stress-Situationen – vor Prüfungen etwa, vor wichtigen Entscheidungen oder beim familiären Streit. Wir alle kennen Situationen, in denen wir uns deprimiert abwenden, vor uns hin grummeln oder unglücklich werden, stinksauer reagieren oder gekränkt.
Allen diesen Situationen gemein ist die emotionale Aktivierung. Unser Verstand sagt: „Das wird schon gut gehen, ich bin gut vorbereitet und das Publikum bei diesem wichtigen Vortrag wird mir nicht den Kopf abreißen.“ Und dennoch fühlt es sich an wie der Gang zum Schafott: Die Knie sind weich, Schweiß perlt auf der Stirn, die Hände zittern. All dies sind körperliche und damit emotionale Reaktionen.

Das Barometer der Emotion

Unsere emotionale Stimmung lässt sich grob in drei Bereiche einteilen. Im „grünen Bereich“ ist alles in Ordnung: Wir fühlen uns wohl, sind zufrieden mit uns und unserem Leben. Damit befinden wir uns in unserer persönlichen Komfortzone – wir chillen in der Hängematte des Lebens.

Steigt die Beanspruchung, kommen wir in Stress und unser emotionales Barometer rutscht in den „gelben Bereich“. Was sich, weil Gefühle im Körper verankert sind (Stichwort Emotionale Marker, dazu werde ich demnächst etwas schreiben), eben auch körperlich bemerkbar macht: Wir zeigen Stressreaktionen mit beispielsweise erhöhtem Puls, geweiteten Pupillen und kürzerem Atem. Damit stellt sich unser Körper darauf ein, schnell zu reagieren. Dieser gelbe Bereich lässt sich als Lern- oder Wachstumszone beschreiben: Wir sind aktiviert und bereit, mit der Beanspruchung umzugehen.

Nimmt der Stress jedoch überhand, wird aus positivem „Eustress“ lähmender „Distress“ und das Emotionale System rutscht in den „roten Bereich“. Es ist überlastet, ein Computer würde Kernel panic anzeigen und abstürzen. In dieser Überforderungszone können wir nicht mehr spontan und angepasst auf unsere Umwelt reagieren, sondern verhalten uns in einer Art Notlaufmodus (moderne Autos haben einen solchen Modus, falls es Probleme mit dem Motor gibt: Sie fahren zwar noch, aber nur noch mit Tempo 80). Der menschliche Notlaufmodus ist – je nach Situation – gekennzeichnet durch extreme Über- und Untererregung.

Die „Fieberkurve“ der Emotionen

Entsprechend skizziere ich diese drei Bereiche in unterschiedlichen Ebenen, wobei der obere „rote Bereich“ die Über-Erregung darstellen soll, die sich in Anspannung, Wut, Angst und Panik ausdrückt. Hier ist beispielsweise das „HB-Männchen“ beheimatet, der typische Choleriker, der bei jeder Kleinigkeit an die Decke geht.

Die Fieberkurve

Die Fieberkurve der Emotionen.
Grafik: Ralf Grabowski

Der untere „rote Bereich“ stellt die Unter-Erregung dar, vergleichbar einem inneren Kollabieren, das sich in Schweigen, Rückzug und Kontaktlosigkeit zeigt. Meiner Erfahrung nach hat jeder Mensch (zumindest für bestimmte Konflikte) seine Lieblingszone, in die er abdriftet.

Bewegen sich Menschen häufig und lange in den „roten Bereichen“, kann es übrigens zu ganz manifesten langfristige Folgen kommen: Einerseits zu innerer Unruhe, Hyperaktivität, Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen, andererseits zu gedrückter Stimmung, wenig Lebensfreude und Depressionen.

Doch zurück zur Grafik. Dargestellt ist die „Fieberkurve“ der emotionalen Verfassung während eines beruflichen Gesprächs mit dem Vorgesetzten. Das Gespräch beginnt harmlos, die Stimmung ist gut. Da kritisiert der Chef eine Entscheidung. Diese Kritik (gekennzeichnet durch den ersten Blitz und das Wort „Trigger“) fühlt sich unberechtigt und überzogen an. Das Emotionale System reagiert sofort und rutscht schnell zunächst in die Wachstumszone, dann in die Überforderung. Wut und Ärger breiten sich aus, doch beide lassen sich kontrollieren, das System beruhigt sich wieder.

Das Gespräch läuft weiter, bis der Chef seine Enttäuschung über die Arbeitsleistung des letzten Jahres kundtut. Wieder rauscht das emotionale System in die Überforderung, diesmal jedoch in einen inneren Kollaps. Der Körper sinkt in sich zusammen, das Atmen fällt schwer, das ganze Leben fühlt sich trostlos und leer an. Auch hier benötigt es wieder eine Zeit, bis die Stimmung sich aufheitert.

Der Weg hinaus aus der Todeszone

Wer sich in der „roten Zone“ befindet, ist in seinen Handlungsmöglichkeiten und seinem Erleben stark eingeschränkt. Er bewegt sich in der Todeszone ohne zusätzlichen Sauerstoff. Der Weg hinaus führt über den Weg der Achtsamkeit und Selbstregulation. Kleine Babys können sich emotional noch nicht selbst regulieren, sie benötigen zwingend die Beruhigung von außen, sie brauchen es, genährt, liebevoll gehalten und getröstet zu werden. Im Laufe der individuellen Entwicklung lernen Kinder immer besser, diese Beruhigung sich selbst zu geben. Oder besser gesagt: In einer gesunden Entwicklung lernen sie das. Immer wieder kann es jedoch passieren, dass die Bezugspersonen diese Entwicklung des Kindes nicht adäquat fördern oder sogar (zumeist unabsichtlich) stören. Im Erwachsenenalter stolpern diese Menschen dann häufig in die „rote Zone“ und haben es schwer, ihr zu entkommen. Doch Selbstregulation lässt sich lernen!

Wichtig dafür ist zunächst Achtsamkeit, die Bewusstheit also über die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Impulse. Wer weiß, dass er sich in der „roten Zone“ befindet, hat schon mal den Gutteil geschafft. Wer weiß, dass er mit seinem Auto feststeckt, wird nicht weiterhin Vollgas geben, sondern Aussteigen und erst mal nachschauen. Ein guter Indikator ist unsere körperliche Verfasstheit: Wie fühlt sich mein Körper gerade an, wie ist meine Atmung, mein Puls, meine Haltung?

Der nächste Schritt ist das Innehalten. Wenn möglich, die belastende Situation verlassen und sich selbst etwas Gutes tun. Gut, wer seine Ressourcen kennt, auf die er in diesem Moment zurückgreifen kann. Doch dazu mehr in einem späteren Blogpost.

Foto: Victor Hanacek / Grafik: Ralf Grabowski