Ach, was sind wir doch für eine glückliche Familie …
Sind wir das wirklich?

Das Modell des Familienhauses: Jeder hat seinen Rückzugsort und jede Rolle ihren festen Platz. Zeichnung: Grabowski

Das Modell des Familienhauses: Jeder hat seinen Rückzugsort und jede Rolle ihren festen Platz. Zeichnung: Grabowski

Häufig wird im Zusammenleben mit Kindern über die Bedürfnisse der Kinder gesprochen, über Freiräume und Mitspracherecht. Und das ist auf jeden Fall gut so! Aus der Familienberatung weiß ich jedoch, dass häufig die Bedürfnisse der Eltern vernachlässigt werden. Oder genauer formuliert: Die Eltern nehmen sich selbst nicht so wichtig. Sie stellen die Familie als Ganzes in den Mittelpunkt, das Wohl des Partners und der Kinder. Sie beanspruchen für sich selbst keine Zeit und keinen Raum. Manchmal scheint es, als ob Individuen, die Eltern geworden sind, aufhören, zu existieren! (Nebenbei bemerkt gilt dieser Eindruck auch für manches Paar)

Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Denn auch wenn der Mann oder die Frau jetzt mit Kindern zusammenleben: Ihre Bedürfnisse bleiben: Nach Rückzug (also Zeit für sich), nach Selbstverwirklichung, nach Individualität. Werden diese Bedürfnisse nicht befriedigt, werden sie im Laufe der Zeit unzufrieden, es kommt zu Spannungen auf der Paarebene und in der Familie.

So ist das Leben in einer Familie also nichts Statisches, sondern eher ein Leben im Gleichgewicht zwischen Nähe auf der einen und Individualität auf der anderen Seite – und zwar von allen Familienmitgliedern.

Auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse geht das Konzept des Familienhauses ein, das von den Therapeuten Brigitte Lämmle und Gabriele Wünsche aufgestellt wurde. In diesem Modell eines Musterhauses haben die Bewohner mit ihren Rollen jeweils eigene Räume.

Wichtig zu sagen ist, dass das Ganze ein Modell (mit Ecken und Kanten) ist. Und dass es nicht darum geht, dass wirklich jedes Familienmitglied diese Räume in echt bewohnt. Es geht vielmehr um individuelle Freiheiten, um Grenzen und um „seelische“ Freiräume für persönliche Entfaltung.

Das Dachgeschoss

Beginnen wir mit dem Dachgeschoss, das für jeden Elternteil ein eigenes Zimmer beherbergt. Dieses Zimmer ist Rückzugsort für die Mutter und für den Vater. Dort besinne sie sich auf ihre Wurzeln, ihre Hobbys, ihre Vorlieben. Dort halten sie Kontakt zu ihren Freunden und Bekannten. Dort tanken sie auch Kraft, denn Familienleben ist anstrengend.

Vielen ist dieses Zimmer, vor allem zu Beginn einer Partnerschaft, nicht wichtig. Sie sagen: „Wir lieben uns doch, ich habe doch meinen Partner, meine Kinder.“ Wie wichtig ein solcher Raum werden kann, wird erst in schmerzlichen Situationen bewusst: Bei Trennung oder auch dem Auszug der Kinder.

Das Obergeschoss

Neben aller Individualität bekleiden die Eltern einer Familie noch zwei andere wichtige Rollen: die des Paars und die der Eltern. Das Paarzimmer entsteht, wenn zwei Menschen zusammenkommen. Hier ist Platz für die Beziehung – für Sexualität, für Austausch, Kommunikation und Auseinandersetzung. Im besten Fall ist das Paarzimmer weit nach außen geöffnet für gemeinsame Unternehmungen und Erlebnisse, auch mal einen Wochenendtrip ohne die Kinder.

Im Elternzimmer begegnen sich Mann und Frau dagegen in ihren Rollen als Eltern. Stress in der Schule oder die Angst vor seltsamen neuen Freunden der Kinder gehören als Themen ins Elternzimmer, denn zu viele Familien-offenen Diskussionen können die Kinder erdrücken. Auch Auseinandersetzungen über Erziehungsziele gehören dort hin.

Das Mittelgeschoss

Sind Ober- und Dachgeschoss kinderfreie Zonen, berstet das Erdgeschoss vor Leben. Hier, in der guten Stube, ist das Familienleben beheimatet. Hier wird gemeinsam gegessen, gelacht, gespielt und gestritten. Hier sind alle anwesend: Die Kinder, die Eltern, der Mann und die Frau.

Das Erdgeschoss

So wie auch die Eltern ihr je eigenes Zimmer haben, ist es für Kinder wichtig, eigene Zimmer zu besitzen – und das ist, wenn es irgendwie möglich ist, auch im ganz materiellen Sinn gemeint. Mit zunehmendem Alter des Kindes wird sein eigenes Zimmer zu seinem Reich; zu einem Territorium, dessen Grenzen heilig sein und respektiert werden sollten.
Hier lernen Kinder Selbstständigkeit, hier erleben sie angenommen-sein, hier sind sie aber auch geschützt vor den Übergriffen der anderen Familienmitgliedern.

Der Sinn dieses Modells

Das Modell des Familienhauses macht deutlich, dass nicht alles überall verhandelt werden kann. Es ist eben oft nicht sinnvoll, wenn die Eltern sich am Mittagstisch (also vor den Kindern) über ihre Erziehungsziele streiten. Und es macht Grenzen klar: Dass Eltern auch auf sich persönlich achten müssen, aber auch die Grenzen ihrer Kinder respektieren und ihre Kinder nicht instrumentalisieren sollten.

Wenn zwischen Vater und Mutter kein Gespräch mehr stattfindet, und die Mutter ihrem Kind sagt: „Na, dann machen wir zwei uns eben einen schönen Abend, deinem Vater sind ja seine Kumpels und der Kneipenabend mal wieder wichtiger“, dann wird das Kind in diesem Moment ins Paarzimmer geholt. Es muss eine Rolle spielen und wird nicht in der Lage sein, festen Boden unter seine Füße zu bekommen.